Entfernung einer Abmahnung aus der Personalakte - Abmahnung an eine Zeitungszustellerin wegen einer Teilnahme an einem Streik

Eine Zeitungszustellerin, die dem Arbeitgeber ihre Streikteilnahme und den Ort mitteilt, an dem die noch auszutragenden Zeitungen sich befinden, hat alles Erforderliche getan, um nicht gegen ihre arbeitsvertraglichen Pflichten zu verstoßen. Sie hat einen Anspruch auf  Entfernung einer darauf gerichteten Abmahnung aus der Personalakte. So entschied das  Arbeitsgericht Bielefeld am 07.03.2006 (Aktenzeichen: 28 Ca 11553/11).

Worüber hatte das Arbeitsgericht zu entscheiden? 


Die Parteien streiten um die Rechtmäßigkeit der Abmahnung vom 20.10.2005. Die am 22.07.1948 geborene Klägerin ist bei der Beklagten als Zustellerin beschäftigt. Sie ist Mitglied der Gewerkschaft ver.di. Mit Schreiben vom 20.10.2005 erteilte die Beklagte der Klägerin die streitgegenständliche Abmahnung, in der es heißt:

"Am 20.10. unterrichtete uns Frau V3x um 5:30 Uhr, dass Sie an einem Streik teilnehmen würden.

Sie haben sich an dem Streik beteiligt. Aus Ihrem Bezirk befand sich ein Teil der Zeitungen an Ihrer Ablagestelle. Uns war nicht bekannt, welche Straßen betroffen waren bzw. welche Haushalte Sie nicht beliefert hatten. Von daher waren wir gezwungen, Ihren kompletten Bezirk nachzutragen.

Sehr geehrte Frau ..., dieses Verhalten verstößt gegen Ihre arbeitsvertraglichen Pflichten. Sie hätten uns mitteilen müssen, welche Kunden noch nicht beliefert waren. Das haben Sie entgegen Ihren arbeitsvertraglichen Nebenpflichten unterlassen. Infolge dessen erteilen wir Ihnen eine Abmahnung.

Sie müssen damit rechnen, dass wir im Wiederholungsfall weitere arbeitsrechtliche Konsequenzen, bis hin zu einer Kündigung, einleiten werden.

Diese Abmahnung nehmen wir zu Ihrer Personalakte."

Die Klägerin nahm am 20.10.2005 an dem von der Gewerkschaft ver.di organisierten Streik für die Zeitungszusteller und –zustellerinnen teil; Ziel des Streiks war und ist der Abschluss eines Entgelttarifvertrages sowie Manteltarifvertrages für die Beschäftigten im Zustellbereich.

Die Klägerin hält die ausgebrachte Abmahnung für unwirksam, da sie in ihrem Verhalten ein arbeitsvertragswidriges Verhalten nicht erkennen könne. Sie habe ihre arbeitsvertraglichen Pflichten auch während des Streiks erfüllt, in dem sie die Beklagte über Frau V3x die Information habe zukommen lassen, dass sie sich im Streik befinde und dass die noch auszutragenden Zeitungen zu der Ablagestelle zurückgebracht worden seien. Keinesfalls sei die Klägerin verpflichtet gewesen, die Beklagte darauf hinzuweisen, welche Kunden bereits beliefert worden sind und welche nicht. Eine solche Verpflichtung ergäbe sich weder automatisch, noch könne sie aus der Teilnahme am Streik abgeleitet werden. Eine solche Verpflichtung hätte sich allenfalls dann ergeben können, wenn die Beklagte die Klägerin konkret hiernach gefragt hätte. Das ist unstreitig jedoch nicht erfolgt.

Die Beklagte meint, dass die Klägerin, die über die Zustellliste verfügt, diese bei Streikbeginn hätte kennzeichnen müssen, so dass es der Beklagten möglich gewesen wäre, unmittelbar zu erkennen, welche Haushalt bereits beliefert worden waren und welche noch nicht. Dass die Beklagte am 20.10.2005 die gesamten Tageszeitungen im Bezirk der Klägerin erneut und vollständig habe ausgetragen müsse, stehe in keinem Verhältnis zu der Pflicht der Klägerin, mittels z. B. eines Hakens in der täglichen Zustellliste eine entsprechende Kenntlichmachung herbeizuführen. Diese Verpflichtung folge auch aus der Schadensminderungspflicht der Klägerin. Auch in anderen Bereichen seien entsprechende Nebenpflichten anerkannt, z. B. bei Montageleistungen, die durch einen Streik unterbrochen werden. 

Das Arbeitsgericht entschied, dass die Abmahnung aus der Personalakte genommen werden muss

Das Arbeitsgericht geb der streikenden klägerin Recht. Die Klägerin hat Anspruch auf Entfernung der Abmahnung vom 20.10.2005 aus ihrer Personalakte in entsprechender Anwendung der §§ 242, 1004 BGB. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kann die Entfernung einer zu Unrecht erteilten Abmahnung aus einer Personalakte verlangt werden, wenn die Abmahnung formell nicht ordnungsgemäß zustande gekommen ist, sie unrichtige Tatsachenbehauptungen enthält, sie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt oder kein schutzwürdiges Interesse des Arbeitgebers am Verbleib der Abmahnung in der Personalakte mehr besteht (so z.B. BAG vom 11.12.2001 in NzA 2002, Seite 965). Die ungerechtfertigte Abmahnung wird dabei als Verletzung des Persönlichkeitsrechts des Arbeitnehmers verstanden, das nach § 823 Abs.1 BGB geschützt ist.

Soweit dem Arbeitnehmer eine Verletzung seiner arbeitsvertraglichen Pflichten vorgeworfen wird, kommt es nicht darauf an, ob dieser Pflichtenverstoß dem Arbeitnehmer subjektiv vorwerfbar ist, vielmehr reicht es aus, wenn der Arbeitgeber einen objektiven Verstoß des Arbeitnehmers gegen die arbeitsvertraglichen Pflichten rügt. Eine solche Rüge ist nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (a.a.O.) nicht nur ungerechtfertigt, wenn sie unrichtige Tatsachenbehauptungen enthält, sondern auch dann, wenn sie auf einer unzutreffenden rechtlichen Bewertung des Verhaltens des Arbeitnehmers beruht.

Die Abmahnung vom 20.10.2005 hält der Klägerin unberechtigt vor, gegen arbeitsvertraglichen Pflichten verstoßen zu haben. Die Teilnahme der Klägerin am Streik vom 20.10.2005 war unstreitig rechtmäßig. Eine Verpflichtung der Klägerin, bei Streikbeginn auf der Zustellerliste kenntlich zu machen, welche Haushalte zum Zeitpunkt des Streikbeginns bereits beliefert waren und welche noch nicht, bestand nicht. Grundsätzlich suspendiert der Streik zwar nur die Hauptleistungspflichten; Nebenleistungspflichten sind jedoch nur unter besonderen Umständen noch zu erfüllen und von sogenannten Erhaltungsarbeiten abzugrenzen. Erhaltungsarbeiten sind dabei solche Arbeiten, die auch während eines Arbeitskampfes zu leisten sind und erforderlich werden, um Anlagen und Betriebsmittel während des Arbeitskampfes so zu erhalten, dass nach Beendigung des Streiks die Arbeit fortgesetzt werden kann. Dabei hat das Bundesarbeitsgericht in einer Entscheidung vom 30.03.1982, 1 AZR 265/80 (in AP Grundgesetz Art. 9 Arbeitskampf Nr. 74) unter III. 4. der Gründe ausgeführt, dass solche Arbeiten keine Erhaltungsarbeiten sind, die nur deswegen erforderlich werden, weil nichtstreikende, arbeitswillige Arbeitnehmer weiter beschäftigt werden sollen. Erhaltungsarbeiten dienen danach dazu, die Fortführung des Betriebes mit arbeitswilligen Arbeitnehmern zu ermöglichen. Ist deren Weiterbeschäftigung in Folge des arbeitskampfbedingten Wegfalls anderer Arbeitsleistungen nicht möglich, greifen die Grundsätze zum Betriebs- bzw. Arbeitskampfrisiko ein. Dieses trägt im vorliegenden Fall die Beklagtenseite. Die Klägerin hat mit der Ankündigung der Streikteilnahme und ihrer Arbeitsniederlegung alles Erforderliche getan. Sie hat auch mitgeteilt, an welchem Platz sich die noch auszutragenden Zeitungen befanden. Eine unmittelbare Verpflichtung der Mitteilung, welche Haushalte bereits beliefert worden waren und welche nicht, ergibt sich nicht aus der Streikteilnahme der Klägerin zum Zeitpunkt des 20.10.2005. Insofern liegt der Rechtsstreit anders, als bei einer auftretenden Arbeitsunfähigkeit. Während man in solchen Fällen dem Arbeitnehmer unter Berücksichtigung der aufgetretenen Arbeitsunfähigkeit durchaus noch Nebenpflichten unter Berücksichtigung der Einzelumstände abverlangen kann, bedeutet die Streikteilnahme die unmittelbare Arbeitsniederlegung. Da zu diesem Zeitpunkt die unmittelbare Verpflichtung zur Führung der Auslieferungslisten an sich nicht bestand, kann sie auch von der Beklagten über die Abmahnung nicht eingefordert werden.

Insoweit liegt der vorliegende Rechtsstreit auch auf einer anderen Ebene als die Entscheidung des LAG Hamm vom 25.05.1993, 4 Sa 11/93, bei der das LAG Hamm feststellte, dass die Betätigung der elektronischen Stechuhr beim Verlassen des Betriebes vor Teilnahme an dem Warnstreik und beim Betreten des Betriebes nach Rückkehr als Nebenverpflichtung aus dem Arbeitsverhältnis bestehen bleibt. Der Unterschied liegt darin, dass die hier streitgegenständliche "Nebenverpflichtung" gerade nicht unabhängig von der Frage eines Streiks bestand, sondern allenfalls - so der Ansatz der Beklagten – sich durch die Streikteilnahme selbst erst manifestieren soll und damit erst hierdurch überhaupt entstehen könnte. Im vorliegenden Fall bestand jedoch zu keinem Zeitpunkt die Nebenverpflichtung der Klägerin, die in ihrem Bezirk ausgetragenen Zeitungen jederzeit anhand eines Auslieferungsprotokolls nachvollziehbar für den jeweils aktuellen Auslieferungszustand festzuhalten. Damit musste es bei dem oben festgestellten Ergebnis verbleiben.

Etwas anderes wäre es gewesen, wenn die Beklagte bei der Klägerin eine entsprechende ausdrückliche Nachfrage gestellt hätte; hier wäre die Klägerin, unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes während einer Streikteilnahme, verpflichtet gewesen, entsprechende Auskünfte kurz zu erteilen. Von sich aus musste die Klägerin jedoch bei der Arbeitsniederlegung keinerlei Angaben über den Stand der Auslieferung machen.

Somit rügt die Beklagte in der Abmahnung vom 20.10.2005 gegenüber der Klägerin zu Unrecht ein arbeitsvertragswidriges Verhalten.

RA Wißmann, Rechtsanwalt Lingen