Arbeitsrecht: Erfordernis einer Anhörung des Arbeitnehmers vor Ausspruch einer arbeitgeberseitigen Kündigung in betriebsratslosen Betrieben
Die verfassungskonforme Auslegung des § 242 BGB (Treu und Glauben) mit Rücksicht auf Art 1 GG (Menschenwürde), Art 2 Abs 1 GG (freie Entfaltung der Persönlichkeit), Art 12 GG (Berufsfreiheit) und den das Arbeitsrecht beherrschenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebietet, eine Kündigung eines Arbeitnehmers in betriebsratlosen Betrieben ohne dessen vorheriger Anhörung als unzulässige Rechtsausübung anzusehen. So entschied das Arbeitsgericht Geldenkirchen (Aktenzeichen:2 Ca 319/10).
Worüber hatte das Arbeitsgericht zu entscheiden?
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer
fristgemäßen Kündigung der Beklagten vom
30.09.2009 zum 30.04.2010.Die 54 Jahre alte, ledige Klägerin,
ist im Rechtsanwalts- und Notarbüro der Beklagten seit 1970
tätig und verdient als vollzeitbeschäftigte
Rechtsanwalts- und Notariatsfachangestellte derzeit 3.325,00 €
brutto im Monat.
Ohne vorherige Anhörung der Klägerin zur beabsichtigten Kündigung und deren Gründe sprachen die Beklagten der Klägerin mit Schreiben vom 30.09.2009 die fristgemäße Kündigung zum 30.04.2010 aus. Gegen diese Kündigung wendet sich die Klägerin mit der von ihr am 08.10.2009 bei Gericht eingegangenen Kündigungsschutzklage.
Die Klägerin rügt ihre mangelnde Anhörung zur Kündigung und meint, dass die Beklagte ihrer sozialen Verantwortung nicht gerecht geworden seien, wenn sie sie, die Klägerin, als weitaus am längsten beschäftigte Arbeitnehmer gekündigt haben.
Die Beklagten sehen keine arbeitsrechtliche Notwendigkeit für die Anhörung der Klägerin vor Ausspruch der Kündigung. Sie halten die übrigen Arbeitnehmerinnen für nicht mit der Klägerin vergleichbar. Die wirtschaftliche Situation, besonders der sinkende Ertrag beim Notar, wo die Klägerin tätig sei, würden deren Weiterbeschäftigung nicht zulassen. Die für die Klägerin aufzuwendenden Personalkosten würden 40% der Gesamtpersonalkosten ausmachen. Die anfallenden Arbeiten ließen sich auch bei Abwesenheit der Klägerin ohne Schwierigkeiten erledigen.
Vorherige Anhörung einer langjährigen Mitarbeiterin notwendig
Das Arbeitsgericht gab der Klage statt. Die verfassungskonforme Auslegung des § 242 BGB mit Rücksicht auf Artikel 1 Grundgesetz (Menschenwürde), Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz (freie Entfaltung der Persönlichkeit), 12 Absatz 1 GG, auf Berufsfreiheit) und den das Arbeitsrecht beherrschenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebietet, eine Kündigung eines Arbeitnehmers in betriebsratslosen Betrieben ohne dessen vorheriger Anhörung als unzulässige Rechtsausübung anzusehen.
Der Arbeitgeber verletzt bei Ausspruch einer Kündigung ohne Anhörung des Arbeitnehmers nämlich die ihm selbst aus dem Arbeitsverhältnis dem Arbeitnehmer gegenüber obliegende Fürsorgepflicht. Diese hat den Inhalt, bei der Abwicklung des eingegangenen Arbeitsverhältnisses die Person und die Rechtsgüter des Arbeitnehmers nicht bzw. nicht unverhältnismäßig zu verletzen, sowie möglichst am Arbeitsverhältnis festzuhalten. Diese allgemeine Verpflichtung des Arbeitgebers besteht auch und insbesondere bei der beabsichtigten Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber und konkretisiert sich in betriebsratslosen Betrieben in dessen Verpflichtung zur Anhörung des Arbeitnehmers vor Ausspruch einer Kündigung. Durch die Gelegenheit zur Äußerung vor Ausspruch einer arbeitgeberseitigen Kündigung kann der Arbeitnehmer seine Interessen artikulieren, seine Sicht der Lage darstellen sowie diese dem Arbeitgeber ins Bewusstsein rufen, weiterhin Gegenvorstellungen zu der Kündigung sowie den Kündigungsgründen des Arbeitgebers vorbringen und damit gegebenenfalls den Eingriff in den Bereich seiner Rechtsgüter abmildern oder gar verhindern. Dies ist dem Arbeitnehmer nach vollzogener Kündigung des Arbeitgebers, auch wenn er diese gerichtlich auf seine Rechtmäßigkeit überprüfen lässt, nicht oder nur bedingt möglich
Eine derartige Fürsorgepflicht in Form der Anhörungspflicht des Arbeitnehmers vor Ausspruch einer Kündigung und die Wirkung der Nichtbeachtung dieser Pflicht, nämlich der Verstoß gegen Treu und Glauben im Sinne einer unzulässigen Rechtsausübung bei Ausspruch der Kündigung mit der Folge ihrer Rechtsunwirksamkeit, folgt aus dem Arbeitsvertrag und einer verfassungskonformen Auslegung und Anwendung von § 242 BGB . Die grundgesetzlichen Bestimmungen kommen zumindest mittelbar bei einer Ausfüllung und Anwendung privatrechtlicher Generalklauseln zur Geltung. Eine Kündigung des Arbeitgebers ohne vorherige Anhörung des Arbeitnehmers verstößt gegen die Menschenwürde ( Art. 1 Abs. 1 GG ), sein Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit ( Art. 2 Abs. 1 GG ), seine Berufsfreiheit ( Art. 12 GG ) und trägt nicht dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung. Zudem wird ein völkerrechtlicher Grundsatz außer acht gelassen.
Das Gericht verkennt nicht, dass es hiermit zumindest im Ergebnis der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes widerspricht. Das Bundesarbeitsgericht hat in mehreren Entscheidungen eine Anhörung des Arbeitnehmers als generelle Wirksamkeitsvoraussetzung einer Kündigung verneint und dies u.a. damit begründet, dass der wichtige Grund im Sinne des § 626 BGB und die soziale Rechtfertigung einer Kündigung im Arbeitsrecht im Sinne von § 1 Kündigungsschutzgesetz vom objektiven Vorliegen entsprechender Tatsachen abhängt, ohne dass es auf den subjektiven Kenntnisstand des Kündigenden ankomme. Nur eine Verdachtskündigung sei unwirksam, weil unverhältnismäßig, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht zuvor angehört habe. Diese verstärkten Anforderungen an Aufklärungsbemühungen des Arbeitgebers im Falle einer Verdachtskündigung seien gewisserweise als Äquivalent und für die Anerkennung des Kündigungsgrundes 'Verdacht strafbarer Handlung bzw. schwerer Vertragspflichtverletzung' zu verlangen.
Die Kammer ist demgegenüber der Ansicht, dass eine Anhörungspflicht dem Arbeitnehmer gegenüber für den Normalfall einer arbeitgeberseitigen Kündigung in betriebsratslosen Betrieben zu gelten hat und dort - bei verfassungskonformer Auslegung - nicht auf den Fall der Verdachtskündigung beschränkt bleiben darf. Die Frage, ob daraus folgt, dass der Arbeitgeber für den besonderen Fall einer Verdachtskündigung über die Anhörung des Arbeitnehmers hinaus weitere Aufklärungspflichten zu erfüllen hat, kann für den vorliegenden Fall dahinstehen.
Der Hinweis des Bundesarbeitsgerichtes auf den objektiven
Charakter der Kündigungsgründe und die
Unerheblichkeit des subjektiven Kenntnisstandes des
Kündigenden greift als Begründung für eine
generell ablehnende Haltung gegenüber einer
Anhörungspflicht vor Ausspruch einer Kündigung zu
kurz. Als Begründung dient nämlich (nur) ein
rechtsdogmatischer Gesichtspunkt. Dessen Heranziehung für die
Lösung der anstehenden Rechtsfrage (ob die Anhörung
des Arbeitnehmers vor Ausspruch einer arbeitgeberseitigen
Kündigung als deren Wirksamkeitsvoraussetzung geboten ist)
bedarf jedoch erst der Begründung. Die rechtlich zu
beantwortende Frage besteht nämlich vorliegend darin, ob ein
verfassungskonformer, angemessener Ausgleich der Interessen von
Arbeitgeber und Arbeitnehmer (noch) gegeben ist, wenn eine
Kündigung eines Arbeitsverhältnisses durch den
Arbeitgeber ohne ein vorgeschaltetes Anhörungsverfahren
ergehen darf und gleichwohl rechtswirksam sein soll.
Allein die Grundrechte der Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 sowie 12 GG gebieten durch ihre mittelbare Wirkung über § 242 BGB eine Anhörung des Arbeitnehmers vor Ausspruch einer arbeitgeberseitigen Kündigung und schließen deren Rechtswirksamkeit aus, falls eine solche Anhörung nicht erfolgt ist.“
Der Ausspruch einer Kündigung durch den Arbeitgeber
ohne die vorherige rechtliche Möglichkeit des Arbeitnehmers
zur Gegenäußerung verletzt die in Art. 1 Abs. 1 GG verankerte
Menschenwürde des Arbeitnehmers sowie dessen Recht auf freie
Persönlichkeitsentfaltung ( Art.
2 Abs. 1 GG ). Auf der Grundlage der bisherigen
Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes kommt es bisher (in
betriebsratslosen Betrieben) nicht selten zu Kündigungen des
Arbeitgebers, die den Arbeitnehmer überraschen und manchmal
sogar während seiner betrieblichen Abwesenheit (Urlaub,
Krankheit etc.) treffen. Ohne die vorherige Anhörung wird der
Arbeitnehmer auf diese Weise zum Objekt der Maßnahme eines
Dritten, die für ihn (zumindest zunächst) erhebliche
materielle und ideelle Nachteile hat und ihn in seiner freien
Persönlichkeitsentfaltung hindert. (Däubler,
Arbeitsrecht II, S. 436). Es gelingt gekündigten Arbeitnehmern
erfahrungsgemäß nur sehr selten, nach einer einmal
getroffenen Kündigungsentscheidung den Arbeitgeber durch eine
Gegenvorstellung umzustimmen. Wenn durch eine einseitige, "einsame"
Entscheidung des Arbeitgebers demnach dem Arbeitnehmer materielle und
ideelle Konsequenzen für die weitere Lebensgestaltung
auferlegt werden können, ohne dass diesem in Form der
Anhörung die Möglichkeit gegeben wird, diese
Kündigungsentscheidung vorher durch eine Stellungnahme zu
beeinflussen, abzumildern oder abzuwenden, wird der Arbeitnehmer im
Ergebnis zum bloßen Träger der dem Arbeitgeber nicht
mehr interessierenden Arbeitskraft reduziert. Dies missachtet die
menschliche Würde des Arbeitnehmers sowie sein Recht auf freie
Persönlichkeitsentfaltung. Der Arbeitnehmer hat ein Anrecht
darauf, in einem Arbeitsverhältnis nicht nur als
Träger einer Ware, sondern als
verantwortungsbewußte, mitdenkende und mitgestaltende Person
respektiert zu werden.
Nach alledem führt allein schon die mangelnde Anhörung der Klägerin zur Unwirksamkeit der Kündigung der Beklagten. Eine Anhörung der Klägerin vor Ausspruch der Kündigung war den Beklagten auch nicht unzumutbar.
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