Verkehrsrecht: Fiktive Abrechnung nach Verkehrsunfall: Erreichbarkeit einer freien Werkstatt

Immer wieder verweisen im Verkehrsrecht Kfz-Haftpflichtversicherungen die Geschädigten eines Verkehrsunfalls bei der Unfallregulierungdarauf, ihr Fahrzeug nicht in einer Markenwerkstatt, sondern in ein preiswerteren freien Werkstatt reparieren zu lassen. Der Bundesgerichtshof (BGH) schränkte diese Praxis ein. Der BGH stellte unter anderem fest,dass nur derjenige Geschädigte sich auf eine freie Werkstatt verweisen lassen müsse, wenn mühelos eine ohne weiteres zugängliche günstigere und gleichwertige Reparaturmöglichkeit bestehe.

Nach einer Entscheidung des Amtsgerichts Halle (Saale) vom 02.02.2012 (Aktenzeichen: 93 C 2774/10) ist eine Werkstatt im Sinne des VW-Urteils des BGH nur dann "mühelos und ohne Weiteres" erreichbar, wenn sie vom Wohnort des Geschädigten nicht mehr als 20 km entfernt ist und eine markengebundene Fachwerkstatt in geringerer Entfernung vorhanden ist. 

Worüber hatte das Amtsgericht zu entschieden?

 

Die Klägerin verlangt restlichen Schadensersatz aus einem unverschuldeten Verkehrsunfall. Laut Kostenvoranschlag einer merkengebundenen Werkstatt würde die Reparatur, die die Klägerin bislang nicht hat ausführen lassen, 2.279,81 € (netto ohne Mehrwertsteuer) kosten. Die Klägerin ist der Ansicht, dass sie sich nicht auf eine billigere Reparaturmöglichkeit in einer freien Werkstatt verweisen lassen müsse. Hierzu behauptet sie, dass sie auch in der Vergangenheit in Fahrzeug in einer markengebundenen Fachwerkstatt habe reparieren lassen. 

Die beklagte Versciherung hält dagegen, die Klägerin müsse sich auf eine kostengünstigere Reparaturmöglichkeit in den freien Werkstätten verweisen lassen. Eine Unzumutbarkeit der Verweisung auf eine freie Werkstatt habe die Klägerin nicht dargelegt und bewiesen. Insbesondere bestreiten die Beklagten, dass das Fahrzeug der Klägerin „scheckheft-gepflegt“ und stets in einer markengebundenen Fachwerkstatt gewartet worden sei.

Amtsgericht legt VW-Urteil des BGH zugrunde


Das Amtsgericht gab der Klage teilweise statt. Es stellte auf das sogenannte VW-Urteil des BGH (Urteil vom 20. Oktober 2009, VI ZR 53/09) ab. 

Nach dem BGH gelten folgende Grundsätze: 

Der Geschädigte darf seiner (fiktiven) Schadensberechnung grundsätzlich die üblichen Stundenverrechnungssätze einer markengebundenen Fachwerkstatt zugrunde legen, die ein von ihm eingeschalteter Sachverständiger auf dem allgemeinen regionalen Markt ermittelt hat. Will der Schädiger den Geschädigten unter dem Gesichtspunkt der Schadensminderungspflicht im Sinne des § 254 Abs. 2 BGB auf eine günstigere Reparaturmöglichkeit in einer mühelos und ohne Weiteres zugänglichen "freien Fachwerkstatt" verweisen, muss der Schädiger darlegen und ggf. beweisen, dass eine Reparatur in dieser Werkstatt vom Qualitätsstandard her der Reparatur in einer markengebundenen Fachwerkstatt entspricht. 

Steht unter Berücksichtigung dieser Grundsätze die Gleichwertigkeit der Reparatur zu einem günstigeren Preis fest, kann es für den Geschädigten gleichwohl unter dem Gesichtspunkt der Schadensminderungspflicht unzumutbar sein, eine Reparaturmöglichkeit in dieser Werkstatt in Anspruch zu nehmen. Dies gilt vor allem bei Fahrzeugen bis zum Alter von drei Jahren. Im Interesse einer gleichmäßigen und praxisgerechten Regulierung bestehen deshalb bei Fahrzeugen bis zum Alter von drei Jahren grundsätzlich keine rechtlichen Bedenken gegen eine (generelle) tatrichterliche Schätzung der erforderlichen Reparaturkosten nach den Stundenverrechnungssätzen einer markengebundenen Fachwerkstatt. Bei Kraftfahrzeugen, die älter sind als drei Jahre, kann es für den Geschädigten ebenfalls unzumutbar sein, sich im Rahmen der Schadensabrechnung auf eine alternative Reparaturmöglichkeit außerhalb einer markengebundenen Fachwerkstatt verweisen zu lassen. Dies kann etwa auch dann der Fall sein, wenn der Geschädigte konkret darlegt, dass er sein Kraftfahrzeug bisher stets in der markengebundenen Fachwerkstatt hat warten und reparieren lassen oder - im Fall der konkreten Schadensberechnung - sein besonderes Interesse an einer solchen Reparatur durch die Reparaturrechnung belegt.

Markenwerkstatt oder mühelose Erreichbarkeit einer freien Werkstatt?

Eine Werkstatt ist nach Ansicht des Amtsgerichts Halle im Sinne des VW-Urteils des BGH „mühelos und ohne Weiteres“ erreichbar, wenn sie vom Wohnort des Geschädigten nicht mehr als 20 km entfernt ist und eine markengebundene Fachwerkstatt in geringerer Entfernung vorhanden ist.

Nach Ansicht des Gerichts muss irgendwo eine Grenze gezogen werden, damit sich Geschädigte nicht auf womöglich hunderte von Kilometern entfernte freie Werkstätten verweisen lassen müssen. Das Gericht ist sich bewusst, dass dieser Grenzziehung ein Element von Willkür anhaftet, aber eine gewisse maximal zumutbare Entfernung muss nun einmal bestimmt werden, und da scheint 20 km praktikabel, weil eine Entfernung von 20 km ungefähr die Grenze markiert zwischen dem, was noch in der Nähe liegt, und dem, was weiter weg liegt. Immer „mühelos und ohne Weiteres erreichbar“ ist hingegen nach Ansicht des Gerichts eine freie Werkstatt, die nicht weiter entfernt liegt als die markengebundene Fachwerkstatt, auf deren Kosten der Geschädigte sich beruft.